Leserbrief an die Kleine Zeitung

Wunschdenken und Realismus

Dem Israelischen Wissenschafter Ronny Shaked ist insoferne Recht zu geben, als es höchst dringlich wäre die israelische Blockade des Gaza zu beenden und dort eine gedeihliche Wirtschaftsentwicklung zuzulassen. Aber er verkennt völlig, dass der Mensch nicht von Brot allein lebt (Matthäus 4,4). Und solange Israel nicht bereit ist das Palästinensische Volk als einen Partner auf Augenhöhe wahrzunehmen und ihm auch Freiheit und volle politische und individuelle Rechte zuzugestehen, wird der blutige Konflikt kein Ende finden. Und solange wir in Europa diese von Seite Israels ständig vorauslaufende  strukturelle Gewalt nicht zur Kenntnis nehmen, haben wir dieses Blutvergießen, dessen Preis auf Seite der Unterdrückten ohnehin wesentlich höher ist, mitzuverantworten.

Die Dämonisierung der Hamas als Terrorgruppe trägt zur Lösung nichts bei. Sie ist nun einmal keine isolierte Kleinpartei, sondern hat eine Massenbasis. Im Jahr 2006 gewann sie die Wahlen zu Palästinensischen Legislativrat. Und auch die Absage der heurigen Wahlen durch Präsident Abbas geschah aus Angst, die Hamas könnte nicht nur im Gaza, sondern auch in der Westbank und Ostjerusalem die Mehrheit der Stimmen gewinnen.

Vollends indiskutabel werden die Positionen von Herrn Shaked dort, wo er sich nach einem Vernichtunskrieg Israels gegen die Hamas-Führung im Gaza und nach der gewaltsam erzwungene Übergabe an die Regierung Abbas sehnt. Das sind universitäre Planspiele eines Intellektuellen, die leider auch dem eurozenrischen Wunschdenken vieler Menschen  hierzulande entsprechen.  Mit den realen Leben der AraberInnen Palästinas hat das nichts zu tun. 

Dass man mit der Hamas nicht verhandeln könne, ist natürlich ebenso Unsinn. Das stimmt eingeschränkt zwar dann, wenn Israel selbst weiter zu keiner Machteilung mit seine arabisch-palästinensischen MitbewohnerInnen des Landes  bereit ist. De facto freilich hat Israel mit  der Hamas zahlreiche Waffenstilstände ausverhandelt. Und auch ihre Neue Hamas Charta vom Mai 2017 zeigt  sie in grundsätzlichen Positionen realpolitische Beweglichkeit. Der 2018 verstorbene Israelische Friedenspolitiker Uri Avnery hat immer wieder betont, das man natürlich auch mit der Hamas verhandeln müsse, weil "Frieden kann man nur mit einem Feind machen könne". Man darf politische  Entwicklungen nie zu kurzfristig beurteilen. Israel kolonialistische Siedlungspolitik hat die Zwei-Staaten-Lösung verunmöglicht. Die reale Dynamik des Konflikts läuft längerfristig auf eine föderale Ein-Staats-Lösung mit gleichen Rechten für alle seiner BewohnerInnen zu. So wie kürzlich der israelische Philosoph Omi Boehm in seinem Buch "Israel - eine Utopie" sehen darin auch immer mehr jüdische Menschen in Israel, den USA und Europa abseits des permanenten Kriegszustandes die allein realisierbare Vision.

Franz Sölkner

GRAZ